Alles egal
Kurt Hofmann
Zu „Crossing Europe“ 2025 in Linz
07.05.2024
Einmal mehr zeigte das Festival „Crossing Europe“ auch 2025 seine Stärken: neugierig, entdeckungsfreudig und couragiert Grenzen überschreitend (statt sie zu schließen...).
Zwei, denen die Stadt als Bühne dient. Ramona und Nico sind die Protagonistinnen, der Rest von Berlin ist Staffage. Alles, was im Wege steht, scheint überwindbar, das spießige Umfeld, die nervigen Nachbar*innen, jede/r, die/der sie am Chillen hindert...
Die böse dunkle Macht – das Abitur – ist besiegt und der Sommer ist ja bekannt dafür, dass (möglichst) immer die Sonne scheint... Je mehr potentielle Hindernisse sichtbar werden, desto mehr drücken die beiden Freundinnen aufs Tempo. Selbst schuld, wer da nicht mithalten kann. Jetzt, in diesem Augenblick, kann Ramona und Nico keine/r bremsen, jeder Streich gelingt, alles klar, alles egal.
Blöd nur, dass der Rest des Personals in ihrem selbst geschriebenen Stück seine/ihre Statist*innenrollen nicht zu kennen scheint. Der Nachbar, ohnedies ein Vogel und in alle Fallen tappend, die sich die Beiden für ihn ausgedacht haben, vertraut ausgerechnet Ramona und Nico für die Zeit seines Urlaubs das von ihm gehegte und gepflegte Haustier, einen Vogel geschützter Art, zur Betreuung an... Von wegen Hege und Pflege: dass der Vogel sich bald nicht mehr in seinem Käfig befindet, sondern irgendwo in der Stadt herumflattert, daran sind die Zwei nicht ganz schuldlos. Und da ist noch Ramonas kleiner Bruder, der immer mit dabei sein möchte und sich zum einen Sorgen um den entflohenen Vogel, der offenbar einer seltenen Spezies angehört, zum anderen um den weiteren Zustand der Welt macht. Irgendwann verschwindet der Ramona von den urlaubenden Eltern zur Obhut anvertraute Bruder mitten in der Menge während einer Klimaschutzdemo. Vogel wie Bruder scheinen spurlos verschwunden, aber sie finden sich wunderbarerweise beide an unerwarteter Stelle wieder ein – Magie...
„Nulpen“ (DE 2025; Regie: Sonja Gajewski; Competition Fiction) ist ein erfrischendes Langfilmdebüt, in welchem die Regisseurin, ‚ihren‘ Protagonistinnen gleich, einfach mal loslegt. Die Sprache (der Slang) klingt authentisch, der unwiderstehliche Drang, Regeln zu überschreiten und dabei Spaß zu haben, bleibt nachvollziehbar, ebenso, wie die spätere Wende von Ramona und Nico vom „Außer uns gibt es niemand auf der Welt!“ zu mitfühlenden Wesen.
Und immer wieder der so ferne (1966) wie naheliegende Vergleich mit Vera Chytilovas „Tausendschönchen“. Der Unterschied: dessen Protagonistinnen waren in ihren Streichen stets subversiv, wider den Stachel lökend, Ramona und Nico versuchen bei Gajewski lediglich, ihre sommerlichen Freiräume maximal zu nützen, noch einmal große Klappe, bevor sie sich – „nach dem Sommer“ – wieder anpassen.
Noch einmal der Sommer, noch einmal eine Unangepasste, diesmal über den Sommer hinaus. Katinka will Bäuerin werden, aber abzüglich all dessen, was man gemeinhin darunter versteht. Sie hat genaue Vorstellungen davon, wie sie dann den Alltag auf dem Hof verändern könnte, abseits des alten Trotts. Aber als Erbe ist ihr Bruder vorgesehen, so war es immer, so soll es, davon ist selbst ihre aufgeschlossenen Mutter überzeugt, weiterhin sein. Da ist eine, locker, selbstbewusst, kompetent, die nicht zum Zug kommen wird, weil es die festgefahrenen Geschlechterklischees so wollen.
Das ist das zentrale Thema von „Milch ins Feuer“ (DE 2024; Regie: Justine Bauer; Competition Fiction), aber leider, und das ist ein wenig hinderlich für Justine Bauers ambitionierten Abschlussfilm für die Kunsthochschule für Medien Köln, nicht dessen einziges. Statt sich auf Katinka, eine Hauptfigur wider alle Klischees des „Landlebens“ und deren feministische Gegenposition zum Althergebrachten, zu konzentrieren, wird bei Justine Bauers „Milch ins Feuer“ noch ein zweiter Erzählstrang sichtbar: das Bauernsterben und wie ein alternativer Bauer gegen die Bürokratie aufbegehrt, erst mit Protestaktionen, schließlich durch seinen Tod – der Suizid als ultimativer Aufschrei, dem freilich das endgültige Verstummen innewohnt...
„Milch ins Feuer“ ist ein vielversprechender Beginn für eine Regisseurin, deren Talent ebenso unübersehbar ist wie deren (seltene) Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die neugierig machen. Wie ihr das gelingt und wie idealtypisch bei „Milch ins Feuer“ das Casting funktioniert hat (mit nur einer allseits bekannten Schauspielerin, der wie immer wunderbaren Johanna Wokalek als Mutter), das ist beachtlich. Dem Film ist ein Kinoeinsatz, zumindest in den deutschsprachigen Ländern, sehr zu wünschen. „Milch ins Feuer“ ist als Debütfilm (und Ausbildungs-Abschluss) frisch und ambitioniert, allenfalls, wie zuvor erwähnt, in seinem Konzept etwas überladen durch den zweiten Erzählstrang vom verzweifelten Bauern.
„Milch ins Feuer“ will zuviel, die Vor- und Nachteile einer solchen Haltung, die für Erstlingsfilme symptomatisch ist, werden sichtbar, auch wenn die Vorteile deutlich überwiegen.
„Anul Nou Care N-A Fost“ (The New Year That Never Came; Rumänien 2024; Regie: Bogdan Muresamu; Competition Fiction) war der diesjährige Siegerfilm, einer mit historischem Hintergrund – den letzten Tagen des Ceaucescu-Regimes. „The New Year That Never Came“ ist ein Episodenfilm und der Titel spricht die zentrale Episode an: wie in einem Fernsehstudio, es geht dem Ende des Jahres zu, die alljährliche TV-Silvestershow vorbereitet wird. Viele beliebte Stars nehmen daran teil und am Schluss der Sendung steht seit Jahren stets eine peinliche , im Chor vorgetragene Eloge an die Person, deren kultische Verehrung in Rumänien Voraussetzung für Karrieren ist. Doch es sind „bewegte Zeiten“ und die Moderatorin des teuren Fernsehspektakels hat sich ins Ausland abgesetzt.... Was tun? Die Fernsehbosse beschließen, nach einem Cover mit maximaler Ähnlichkeit zu der nicht mehr Verfügbaren zu suchen und werden am Nationaltheater fündig. Die weitgehend unbekannte junge Schauspielerin wurde bis dahin stets schlichtweg übersehen. Nun auf diese Weise ins Blickfeld zu geraten: darauf hat sie erst recht keine Lust und versucht die Aufnahmen in jeder Weise zu hintertreiben. Aber sie ist die „Auserwählte“, Widerspruch ist da nicht vorgesehen, auch das Vortäuschen einer Erkältung und Betrunkenheit sind da kein Hemmschuh, nicht einmal ein versuchter Selbstmord, dem keine Bedeutung beigemessen wird, hat da aufschiebende Wirkung - die Szene mit dem unterwürfigen Spruch muss in den Kasten, wäre da nicht eine aktuelle Meldung, die eine wütende, unübersehbare Masse im Bild zeigt, welche Ceaucescu, den „sein Volk“, dem er noch einmal alles erklären will, nicht zu Wort kommen lässt. „Hallo! Hallo!“ ruft er der Menge zu, aber nichts nützt mehr und im Studio verlassen die staatlichen Lobpreiser das sinkende Schiff. Es wird kein neues Jahr mit dem alten Regime mehr geben. Zurück bleibt die Schauspielerin, die einem üblen Spiel entgangen ist, aber dennoch nicht weiß, wie es mit ihr weitergeht...
„The New Year That Never Came“ zeigt, auch in den anderen Episoden, ein Rumänien, in dem Angst, Misstrauen und Denunziation an der Tagesordnung stehen – schon der scheinbar vertraute Nachbar könnte ein Spitzel sein – von „Sozialismus“ keine Rede...
Atmosphärisch dicht und mit Blick aufs Detail untersucht Bogdan Moresamus Film den Alltag des Rumänien der Ceaucescu-Jahre und zeigt, oft auch mit satirischen Anklängen, wie schwierig es ist, bei ständiger Beobachtung unsichtbar zu sein...
In Dunkel getauchte Bilder bereiten das Publikum schon zu Beginn des Films darauf vor, was es erwartet. Wir schreiben zwar das Jahr 2024, aber: Willkommen im finstersten Mittelalter!
Vergleiche hinken, bekanntermaßen, und wenn wir Nina an ihrem Arbeitsplatz, einem gut ausgestatteten Krankenhaus, sehen, verwundert der erste Eindruck, den wir erhalten haben, aber noch verfügen wir nicht über alle Informationen... Nina ist eine angesehene Gynäkologin und als ihr ein Neugeborenes stirbt, bezeichnen sie die Angehörigen prompt als Mörderin. Ihr Vorgesetzter will sich absichern, kündigt eine Untersuchung an, wissend, dass Nina einmal mehr einer Frau ohne Krankenversicherung helfen wollte, ihr Kind zur Welt zu bringen. Wir befinden uns im ländlichen Südgeorgien, Dörfer rundum, Verhütung unbekannt oder unerwünscht. Nächtens fährt Nina durch die Dörfer und führt illegale Abtreibungen durch. Frauen zählen nicht viel in dieser Umgebung, auch Missbrauch ist an der Tagesordnung. Sich an offizielle Stellen wenden: ein Treppenwitz! Solidarität ist in der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien ein Fremdwort und wenn eine wie Nina sich nicht an das „Nichts sehen – Nichts hören – Nichts sagen“ hält, rücken ihre Kolleg*innen von ihr ab. Da wird eine der Frauen, denen Nina geholfen hat, vom schlagenden und vergewaltigenden Ehemann ermordet. Aber die Schuldige wird anderswo gefunden: Nina, die der Verletzung ärztlicher Ethik vorgeworfen wird...
Ja, die Gesetze, besser wär’s ja vielleicht, sie sähen anders aus, aber, andererseits, sie gelten auch für sie, sagen ihre Vorgesetzten zu Nina. Das ist wahr, aber ebenso wahr ist, dass sich nichts ändern wird für die Frauen in den Dörfern, die nun keine mehr haben, die ihnen beisteht...
„April“ (Georgien 2024; Regie: Dea Kolumbegashvili; European Panorama) zeigt ein ländliches Georgien, in dessen Dörfern Schweigen herrscht, wenn Frauen entrechtet leben. Das war schon immer so, sagen die einen. Da kann man halt nichts machen, die anderen. Einmal bleibt Nina während ihrer nächtlichen Fahrten mit ihrem Auto im Schlamm stecken: das ist ein bezeichnendes Bild...
Sirje und Marte, beide mittleren Alters, beide ohne Chance auf einen Job, leben in einem dieser Wohnblocks, die so austauschbar sind wie beider Leben. Als sie sich einmal mehr gemeinsam betrinken, um die Ungerechtigkeit der Welt zu beklagen, erscheint ihnen ein unförmiges, sabberndes Etwas von einem anderen Stern und bietet den beiden ein lukratives Geschäft an: da auf seiner Lichtjahre entfernten Galaxie auch die Medizin jener der Erdlinge um Lichtjahre überlegen sei, würden Sirje und Marte kein Risiko eingehen, wenn sie sich mehrere Tage hintereinander im Raumschiff der außerirdischen Gäste je ein Organ, welches nach der Untersuchung verlässlich wieder eingesetzt würde, entnehmen ließen. Dies alles würde fürstlich entlohnt. Gesagt, getan. Den
bald um tausende Euro Reicheren gefällt die Aussicht, selbst nichts zu tun und dafür Geld zu kassieren, so gut, dass sie Staatsbürger*innen im fernen Land der Außerirdischen werden wollen, aber da wird ihnen erklärt, dass sie als unterentwickelte Spezies dafür nicht in Frage kämen. Sirje und Marte sind empört, halten sie sich doch zum einen, weil sie ja schließlich Menschen, zum anderen, weil sie ja doch wohl unbestreitbar Powerfrauen seien, für die Krone der Schöpfung. Das Raumschiff fliegt ohne sie ab, der Wohnblock und die Bar warten: shit happens...
„Must Auk“ (The Black Hole; Georgien/Finnland; Regie: Moonika Slimets; Nachtsicht) ist eine in drei Episoden aufgeteilte SF-Komödie aus Estland, bei der Finnland als Kooperationspartner nicht nur im Handlungsverlauf eine große Rolle spielt. „Must Auk“ wirkt vielmehr so, als sei der Film ein wiederentdecktes, bislang unbekanntes Werk von Aki Kaurismäki – jedenfalls: „Must Auk“ ist gespickt mit trockenem Humor und Gags – sehr vergnüglich!